Können wir uns auf den gesunden Menschenverstand verlassen?

Wie wir das Berufsleben auf der Basis von Vorurteilen gestalten und bewerten

Berufen wir uns in Situationen, in denen wir vernünftig entscheiden wollen, etwa auf unsere Vorurteile? Martina Beykirch möchte dem auf die Spur gehen. Ein Artikel von Martina Beykirch für das Online-Fachmagazin für Führungskräfte und Leadership-Themen GendersDialog – Das Magazin.

Gesunder Menschenverstand ist eine Sammlung von Vorurteilen, die man bis zum achtzehnten Lebensjahr erworben hat.   Albert Einstein

Ob das Zitat von Albert Einstein nun genau so stimmt, weiß ich nicht – aber interessant ist doch, dass bereits Albert Einstein im vergangenen Jahrhundert das Thema „Vorurteile“ entsprechend beschrieb und einordnete – wohingegen wir deren Existenz im Konzernkontext bis heute geflissentlich übersehen.

Im Grunde genommen beschreibt er, dass die Argumentation mit dem „gesunden Menschenverstand“ ein unbewußtes „Anheben“ der eigenen Einstellung, der eigenen Meinung auf die Meta-Ebene ist, quasi als Meinungsverstärker. Wird der gesunde Menschenverstand als solches genutzt, scheint in bestimmten Situationen „Meiner Ansicht nach“ zu schwach zu klingen. Der Mensch fühlt sich wohl besser, wenn die eigene Meinung als „Allgemeingut“ und dann noch als „gesund“ betrachtet wird. Das hat meines Erachtens etwas mit dem Gefühl der Zugehörigkeit zu tun, das wir uns alle so sehnlichst wünschen. Nur, was genau hat das Thema „Eine Sammlung von Vorurteilen“ mit „Change-Management-Projekten“ und „Leadership der Zukunft“ zu tun?

Nur 30 Prozent der Change-Management-Projekte gelingen

Bevor ich die Brücke baue, möchte ich das Thema Change Management in Unternehmen beleuchten. Veränderungen jedweder Art erfolgreich zu gestalten, gehört mit zu den Hauptaufgaben heutiger Führungskräfte. Ständiger, immer schneller werdender Wandel in den Unternehmen führt zu einer Zusammenballung der Change-Management-Projekte. Alle sind parallel abzuarbeiten. Das fatale Ergebnis: Zirka 60 bis 70 Prozent aller Change-Projekte in Unternehmen scheitern – und das konstant seit den 1970er-Jahren.

Was sind die Gründe dafür?

Oftmals sind es nicht die jeweiligen Veränderungsvorhaben selbst, die bei den Mitarbeitern keinen Anklang finden, sondern die Art und Weise, wie die Themen (auch unbewusst) umgesetzt werden. Mangelnde Verzahnung tut ihr Übriges.

Der Druck in den Unternehmen wird immer größer und das Bedürfnis nach einer respektvollen, gleichwertigen Behandlung dadurch immer mehr missachtet. Somit erwächst subtiler, passiver Widerstand.
Die Hauptfaktoren für die niedrige Erfolgsquote im Veränderungsmanagement sind laut John P. Kotter, Professor Emeritus, Harvard Business School:

  • Der Widerstand der Mitarbeiter gegen die Veränderung
  • Das Zurückfallen in alte Muster

Kotter empfiehlt daher acht Phasen, die – wenn sie präzise durchlaufen werden – das Veränderungsmanagement zum Erfolg führen sollen:

  • Bewusstsein für die Dringlichkeit schaffen
  • Gemischte Führungskoalition aufbauen
  • Vision und Strategie entwickeln
  • Vision kommunizieren
  • Handeln im Sinne der neuen Vision sowie Hindernisse bewusstmachen
  • Kurzfristige Erfolge sichtbar machen
  • Erreichte Verbesserungen systematisch weiter ausbauen
  • Veränderungen in der Unternehmenskultur verankern

Zwar fehlt in Kotters Modell die Darstellung, wie im Falle von Rückschritten zu agieren ist und wie sogenannte „Bottom-up“-Initiativen der Mitarbeiter berücksichtigt werden können, aber es zeigt deutlich, wie wichtig „gute Kommunikation“ für nachhaltigen Wandel ist.

Wie sieht „gute Kommunikation“ denn nun bei dem Change-Projekt „(Gender) Diversity“ aus, bei dessen Gestaltung wir uns in unserer Gesellschaft seit Jahrzehnten nachhaltig die Zähne ausbeißen?
An mangelndem theoretischen Wissen in Sachen Change Management kann es definitiv nicht liegen. Ein Klick bei Amazon bestätigt diese Behauptung umgehend. Allerdings sind die Fähigkeiten der Führungskräfte, Veränderungen wirksam zu managen, über die Jahre hinweg eher ausbaufähig geblieben, da die Themen oftmals von externen Beratern „abgewickelt“ worden sind.

„Unconscious bias“ verhindert Gender Diversity

Ein in der Praxis leider eher unbeachtetes Phänomen stellt darüber hinaus ein weiteres Hindernis dar: „Unconscious bias“ nennen es renommierte Forscher – hierzulande wird es oft als „unbewusste (falsche) Vorannahme“ bezeichnet. In meiner Abhandlung „Erfolgreich Führen – eine Frage des Geschlechts?“ habe ich 2012 bereits hervorgehoben: Studien, Umfragen und Erhebungen belegen, dass wir in unserer Gesellschaft das Berufsleben auf der Basis von Vorurteilen und (falschen) Annahmen gestalten und bewerten. Im Grunde unglaublich!

Was genau bedeutet das? In unserer Wahrnehmung folgen wir Menschen unbewussten Denkkategorien und ordnen einzelnen Gruppen bestimmte Eigenschaften zu. Dies erfolgt stets und automatisch. Indikatoren wie Geschlecht, Hautfarbe, sozialer Hintergrund etc. beeinflussen subtil, wie eine Person von ihrem Gegenüber beurteilt wird. Individuelle Qualitäten treten dabei in den Hintergrund. Weicht ein Verhalten zu stark von dem der Gruppe zugeordneten Verhalten ab, wird es negativ bewertet, wie zum Beispiel ein sehr familienorientierter (Haus-)Mann „gern“ als „Weichei“ bezeichnet wird. Eine „Ansammlung von Vorurteilen“?

Dr. Petra Köppel, Diversity-Expertin, verdeutlicht, dass der Unconscious Bias zum Problem wird, wenn Kompetenzen nicht erkannt oder Verhaltensweisen missverstanden werden: „Im Zusammenhang mit Diversity Management bedeutet dies: Selbst wenn Vorstand, Führungskräfte und MitarbeiterInnen überzeugt sind, tolerant und objektiv Einschätzungen zu treffen, kann sie der Unconscious Bias austricksen, und sie folgen – ohne dies zu merken – tradierten Mustern, zum Beispiel Geschlechterrollen. Da dies unbewusst passiert, fehlt das Problembewusstsein und demnach die Einsicht in die Notwendigkeit von Diversity Management und zum Unternehmenskulturwandel.“

Da, wie bereits erwähnt, genügend theoretisches Wissen vorhanden ist, und wir uns das unbewusste Phänomen inzwischen bewusst gemacht haben, geht es nun an die reale Umsetzung unserer Vorhaben in der Praxis. Wie kann es zukünftig gelingen – auch angesichts der hohen Anzahl der parallel durchzuführenden Change Projekte – sich an das theoretische Modell Kotters präzise zu halten, dabei weitere Hemmfaktoren nicht aus den Augen zu verlieren und bei Rückschritten und „Bottom-up“-Initiativen „Extra-Schleifen“ zu drehen? Eine Rate des Scheiterns von bis zu 70 Prozent kann sich kein Unternehmen mehr leisten!

Ein wertschätzender Kommunikator muss her

Hier können wir die Brücke schlagen zu Einsteins „Sammlung von Vorurteilen“. Die eigene Meinung finden wir in der Gruppenmeinung wieder, wir fühlen uns verstanden, das Gehirn belohnt uns, wenn es etwas wiedererkennt und somit erfolgt – oft auch unbewusst – sowohl bei Frauen als auch bei Männern der Rückfall in alte Muster. Und wir wundern uns, warum nichts vorangeht.

Wenn wir dem wirklich und wahrhaftig ein Ende setzen wollen, darf „der unbewusste Motor“ nicht länger unbeobachtet weiterlaufen. Solange wir es nicht schaffen, uns die aus den letzten Jahrhunderten stammenden (falschen) Vorannahmen und Vorurteile stetig bewusst vor Augen zu führen und mit ihnen entsprechend umzugehen, gibt es für mich nur eine Möglichkeit: Die Unternehmen benötigen zunächst einmal eine eigens dafür geschaffene Position. Eine Erweiterung in Richtung Abteilung nicht ausgeschlossen!

Ein ermutigender, menschen- und prozessbegleitender, wirksamer und wertschätzender Kommunikator muss her! Er macht in den unterschiedlichen Situationen die Vorurteile immer wieder bewusst, „hält sie in Schach“ und bleibt „beharrlich an dem Thema dran“. Einige seiner Hauptaufgaben bestünden darin:

  • sich die Zeit zu „nehmen“, zuzuhören,
  • den Dialog zu fördern,
  • Feedback zu geben,
  • Persönlichkeitsentwicklung zu fördern und zu fordern,
  • Bedenken anzumelden, aufzunehmen und Angst zu mildern,
  • Brücken zu bauen sowie
  • Innovationen zu begünstigen.

Der Nutzen dieser Funktion:

  • Das nachhaltige „Wir tun doch alles, aber die Veränderung setzt nicht ein“ hat ein Ende.
  • Die Bewusstmachung des Unconscious Bias erfolgt und wird konstant im Auge behalten.
  • Die Unternehmen werden erfolgreicher sein, denn die darin arbeitenden Menschen fühlen sich ermutigt und wertgeschätzt.
  • Männer erkennen mehr und mehr, warum es sich lohnt, Gender Diversity zu fordern und zu fördern, da sie ebenfalls das Leben leben dürfen, das sie wollen,

Prof. Dr. Michael Kimmel, herausragender Professor für „Sociology and Gender Studies“, Stony Brook University, hat herausgefunden: „Men’s priorities have shifted towards family life, just as women have finally allowed themselves to lean in enough to embrace their ambitions. Both women and men want the same things in their lives: Meaningful careers, loving families, and a supportive work environment. Unconscious bias prevents women – and men – from achieving these goals. And it hurts all of us.“

Let’s get started

Quellenverzeichnis

  1. Martina Beykirch: „Erfolgreich Führen – eine Frage des Geschlechts? Auf der Suche nach einer Antwort unter Berücksichtigung individualpsychologischer Überlegungen“, München 2012.
  2. Martina Beykirch: „Meine Vision vom Kulturwandel. Wie Wertschätzung zum Erfolgsgaranten wird“, In: Genders Dialog Leadership der Zukunft, Führungstools für Sie UND Ihn, Gabriele Schendl-Gallhofer (Hrsg.), Lohner Verlag Berkheim 2015.
  3. Michael Kimmel: „How Unconscious Bias Hurts Men – and the Companies they Work for“, In: Auswahl von Männern und Frauen als Führungskräfte, Prof. Dr. Isabell M. Welpe et alia (Hrsg.), SpringerGabler 2015.
  4. Dr. Petra Köppel: „Diversity Management in Deutschland: Benchmark 2014 Strategie oder Alibi?“, In: Leading Change, John P. Kotter, Harvard Business School press 1996; Deutsch: Chaos, Wandel, Führung, Düsseldorf 1997.

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