Ein Blick auf unsere Leistungsgesellschaft

Aufregende Lektüre für den Sommer – Ein Blick auf unsere Leistungsgesellschaft
© Manfred Weis - manfredweis.com

Hotel Weitblick – Eine aufregende Sommerlektüre

„Er sieht den röhrenden Hirsch: Ach, wie wünschte ich mir, sie würden alle einmal ins Wanken geraten, jeder Mensch sollte an irgendeinem Punkt in seinem Leben wenigstens ein einziges Mal seine Standfestigkeit verlieren.“

Renate Silberer
Renate Silberer
Hotel Weitblick
Verlag: Kremayr & Scheriau
ISBN 978-3-218-01272-0
€ (A, D) 20,00

Vier Führungskräfte einer Werbeagentur, ein Wochenende in einem abgelegenen Hotel: Wer den Geschäftsführer-Posten bekommen soll, entscheidet der von Selbstzweifeln geplagte Consulter Marius Tankwart. Seine Auswahlseminare sind berühmt, doch der erbitterte Kampf der Manager untereinander macht eine gemeinsame Lösung unmöglich, und als er im Verhalten der Teilnehmer schließlich die Erziehungsmethoden einer Nazi-Pädagogin wiedererkennt, muss er eine Entscheidung treffen, von der sein eigenes Überleben abhängt.

In ihrem Debütroman „Hotel Weitblick“ wirft die prämierte Lyrikerin und Prosaistin Renate Silberer einen Blick auf das Leistungsdenken und den Glauben an sich selbst. Ihre Figuren sind allesamt Menschen, die ihr Leben am beruflichen Erfolg ausgerichtet haben und ihr Privatleben vernachlässigen. Wie ein Mantra bekräftigen die Teilnehmenden des Seminars wie fleißig, anständig und erfolgreich sie doch sind und versuchen dabei sich auf alle Wege gegenseitig auszustechen.

Hintergrund dieses Verhaltens ist ihre Erziehung. Durch diese wurde ihnen ein bedingungsloser Gehorsam aufgezwungen. Aus Jungen sollen „richtige“ Männer werden, die keine Schwäche oder Gefühle zeigen dürfen. Dem gegenüber steht die Erziehung einer jungen Mutter, die genau diese Merkmale besonders ausgeprägt vorzuweisen haben soll.

Dabei bezieht sich die Autorin immer wieder auf das Buch „Die Mutter und ihr erstes Kind“ von Johanna Haarer, welches vor dem Zweiten Weltkrieg noch den Zusatz „deutsche Mutter“ enthielt und als einer der Top-Erziehungsratgeber noch weit nach der nationalsozialistischen Zeit seinen Einfluss auf die Gesellschaft ausübte. Die fachliche Grundlage der Autorin spürt man dabei auf jeder Seite. Im Interview erläutert uns Renate Silberer die Quellen und Erlebnisse ihres Debütromans:

„Im Fokus der Recherche waren die NS-Erziehungsratgeber „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ und „Unsere kleinen Kinder“ von Johanna Haarer. Sie war Erziehungsbeauftragte des Dritten Reichs und ihre Ratgeber wurden systematisch verbreitet: in Schulen, in Krankenhäusern, in der Hebammenausbildung, im Bund deutscher Mädel, ebenso, wie in privaten Haushalten. Nationalsozialistische Erziehung verfolgt bei aller Ähnlichkeit zur Schwarzen Pädagogik ein zusätzliches Erziehungsziel: das der möglichst großen Bezugslosigkeit zu sich selbst und zu anderen. Betroffene haben schwer Zugang und kaum/kein Vertrauen in ihre Gefühle und Empfindungen und sind dadurch leichter manipulierbar, bereiter zu Unterwerfung, Gehorsam und Sich-einfügen in eine Ideologie. „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ wurde nach Kriegsende bis 1987, zwar bereinigt von deutlich erkennbaren nationalsozialistisch-ideologischen Lehrsätzen, jedoch im Kern mit denselben Erziehungszielen mit dem Titel „Die Mutter und ihr erstes Kind“ weiter aufgelegt und blieb bis in die 1980er Jahre als führender Erziehungsratgeber in den deutschsprachigen Haushalten erhalten.So wurden auch Folgegenerationen – die zwischen 1970 und 1980 geborenen Protagonisten des Romans – mit frühen nationalsozialistischen Prägungen ins Leben entlassen, ohne sich jemals dieser Tatsache und ihren möglichen Folgen bewusst geworden zu sein. Hier wollte ich genauer hinschauen.“

Mit ihrem Debütroman richtet Renate Silberer einen entlarvenden Blick auf die erlernten Handlungsweisen unserer Gesellschaft und übt auf provokante Weise unverhohlene Kritik an unserer Leistungsbereitschaft.

Über die Autorin

Renate Silberer, geb. 1975 in Braunau am Inn, lebt in Linz. Nach dem Studium der Erziehungswissenschaften und Sonder- und Heilpädagogik machte sie eine Ausbildung zur Feldenkrais-Pädagogin und eine Weiterbildung in Integrativer Leib- und Bewegungstherapie. Seit 2003 ist sie als Feldenkraislehrerin und Körpertherapeutin in freier Praxis tätig. 2008/09 nahm sie an der Leondinger Akademie für Literatur teil. Seit 2009 veröffentlicht sie Lyrik und Prosa in Zeitschriften und Anthologien.

Für ihre Gedichte und Prosaarbeiten wurde sie mit diversen Stipendien ausgezeichnet, u.a. mit dem Rauriser Förderpreis 2013. 2017 erschien dann ihr Einzelband „Das Wetter hat viele Haare“. Nun beeindruckt sie mit ihrem Debütroman „Hotel Weitblick“.

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